Ich möchte euch gern vom Joscha erzählen und was er so tut das ganze Jahr. Und natürlich von Lina, von Lina, der Heldin. Ich will euch erzählen, wie der Joscha so lebt in seinem Tal und wie sie zusammenleben, der Joscha und all die anderen, und wie sie miteinander reden und so, und auch von den Geschichten, die sie sich erzählen, und von den Festen, die sie feiern.

 

Martin Auer
Joscha unterm Baum
mit Bildern von
Christine Sormann

Erstveröffentlichung im Verlag St. Gabriel, Wien

 

 

Im Januar bleibt der Joscha in seiner Höhle unterm Baum. Im Herd brennt Feuer, im Küchenschrank sind Zwieback und Nüsse, und der Joscha sitzt an seinem Tisch. Vor sich hat er Papier und Tintenfaß und in der Hand eine Rabenfeder. Der Joscha grübelt und denkt, überlegt und studiert, dann taucht er die Feder ins Tintenfaß und zeichnet etwas auf sein Blatt Papier.

Dann läuft er mit seinem Papier durch das Höhlenhaus, wühlt in den Schubladen, sucht unterm Bett, klettert auf Stühle, kramt in Schränken und stöbert im Schuppen, bis er beisammen hat, was er braucht: Röhren aus hohlen Holunderzweigen, Draht und Schnur und Siegellack, Stücke von einem zerbrochenen Spiegel und Linsen aus klarem Bergkristall. Dann fängt er zu bauen an. An einem Tag klopft es an seine Tür. Der Joscha klettert die Stufen hinauf und keucht. Im Winter wird er immer ein bißchen dick. Draußen steht die Lina in der Wintersonne. Lina, die Heldin, nennt sie der Joscha bei sich. Aber das darf niemand wissen. „Komm herein, Lina", sagt der Joscha, „wo bist du gewesen?"

„Im hohen Norden, Rentiere fangen", sagt die Lina. „Und du, was hast du gemacht?"

„Schau her!" sagt der Joscha. Von der Decke herunter schlingt sich etwas durchs ganze Zimmer. Etwas, was aussieht wie eine Schlange aus hohlen Holunderzweigen, Draht und Schnur und Siegellack, Stücken von einem zerbrochenen Spiegel und Linsen aus klarem Bergkristall. „Siehst du den weißen Kreis an der Wand? Das ist die Sonne!"

„Die Sonne?" fragt die Lina.

„Ja", sagt der Joscha. „Oben auf dem Dach, da fange ich ihr Bild ein und hole es herunter mit Röhren und Spiegeln und geschliffenem Kristall." „Und jetzt?" fragt die Lina.

„Jetzt warten wir, bis es schneit." Und sie warten. Eines Tages beginnt es zu schneien.

„Siehst du", sagt der Joscha. An der Wand, wo der Sonnenkreis war, sieht die Lina eine Schneeflocke schweben, aber groß wie eine Hand, und sie sieht aus wie ein Gelächter aus Kristall. Und dann kommt eine andere, wie ein Stern, der aus Klöppelspitzen gewebt ist. Und eine dritte, die ist wie ein Spinnennetz. Die vierte sieht aus wie eine pelzige Krone und die fünfte wie ein Rätsel und die sechste wie ein Geheimnis.

„Es ist wunderschön!" sagt die Lina. Und sie sehen zusammen die Schneeflocken an.

„Ich muß weiter", sagt die Lina. „Sehen, ob keine Wölfe ums Dorf herumschleichen."

Joscha-2.jpg

„Ja", sagt der Joscha, das könnte leicht sein, bei so einer Kälte!"

„Und was wirst du machen?" fragt die Lina. „Ich muß mir ein paar Geschichten ausdenken, für die Eulen im Wald hinterm Haus. Sie schreien immer so traurig. Aber du darfst die Geschichten auch hören, wenn du wiederkommst."

Joscha-3.jpg

„Das ist gut", sagt die Lina. „Und wovon werden sie handeln?"

„Ich weiß es noch nicht genau", sagt der Joscha. „Hauptsächlich von Schneeflocken, denke ich!"

 

 

Wenn ich ein anderer wäre,
wär dann ein anderer ich?
Wenn ich meinen Namen verlöre,
sag mir, wie riefest du mich?

 

Gedicht von Joscha,
als er einmal lange in
einen fließenden Bach schaute.
Eisglocken hingen von den zweigen
und die Ufersteine waren in Kristalle verwandelt

 

 

  Joscha-4.jpg

Im Februar kommen die Schneestürme. Da bleibt der Joscha im Bett und schläft und schläft. Er schläft so lange, bis er etwas träumt, was ihm gefällt. Nicht alles ist gut, was der Joscha träumt. Manchmal ruft er im Schlaf: „Nein, nein, das nicht!" Aber wenn er einen guten Traum gehabt hat, dann wacht er auf und schreibt ein Gedicht darüber. Er schreibt ein Gedicht über die Berge, die man vom Tal aus sehen kann. Die Düsteren Berge heißen sie. Eisige Stürme blasen darüber hinweg und bringen Schnee aus dem Norden. Über die Berge, durch den Schnee, wandert Lina, die Heldin. Schneeschuhe hat sie an ihren Füßen, den Bogen über der Schulter. Wo wird sie wohl hinwandern? Vielleicht in die warmen Länder, um seltene Früchte zu holen. Vielleicht ans Meer, um Salz einzutauschen für Bergkristall. Vielleicht nimmt ein Schiff sie mit übers Meer, bis ganz in den Süden, zu den Pinguinen? Niemand wandert so weit wie die Lina. Niemand vom Tal ist so tapfer wie sie.

So ungefähr geht das Gedicht, das der Joscha dichtet. Er schreibt es auf ein großes Papier und liest es sich zweimal durch, einmal leise und einmal laut. Es ist ein gutes Gedicht, findet er. Er wird es auf dem Frühlingsfest vortragen, wenn die Leute vom Tal sich wieder versammeln nach dem langen Winter.

Vielleicht aber wird er es auch nicht vortragen. Vielleicht dichtet er noch ein anderes Gedicht für das Fest, und dieses hier liest er nur der Lina vor. Oder er rollt es zusammen, bindet ein schönes Band darum und gibt es ihr als Geschenk, wenn sie wiederkommt. Ja, so wird er es machen. Der Joscha klettert auf einen Stuhl und holt ein Band aus dem Schrank. Ein rotes Band aus dem obersten Fach, wo er die Sachen aufhebt, die man nur selten ansehen darf. Dann denkt er sich eine ganz neue Schleife aus, mit der er das Band um die Rolle bindet. Als das Geschenk fertig auf dem Tisch liegt, rollt er sich wieder im Bett zusammen, um das Gedicht für das Best zu träumen. Von grünen Insekten mit durchscheinend zarten Flügeln träumt der Joscha, und von Pflanzen, die auf dem Wasser schwimmen wie Boote. Zufrieden lächelt der Joscha im Schlaf. Das wird ein gutes Gedicht für das Fest. An Joschas Tür klopft es. Der Joscha wacht auf und geht nachsehen. Draußen ist die Lina und klopft sich den Schnee von den pelzgefütterten Kleidern. Ihre Wangen sind rot gefroren, und sie hat Eiskristalle im Haar. „Komm herein!" sagt der Joscha.

„Danke", sagt die Lina und geht mit ihm die Treppe hinunter.

Joscha-5.jpg

„Ich habe ein Gedicht für dich gemacht", sagt der Joscha. Und er gibt der Lina sein Geschenk. „Ich habe geträumt, daß du über die Düsteren Berge wanderst, bis an die Küste des salzigen Meers und weiter bis ins südliche Eis, wo die Pinguine zu Hause sind. Das steht im Gedicht." „Und ich habe dir etwas mitgebracht", sagt die Lina und macht ihren Rucksack auf. „Salz von der Meeresküste und aus dem Süden die Feder von einem Pinguin."

 

 

Erst hab ich von ihm geträumt,
dann hab ich es wiedergesehn.
In meienm Traum war es häßlich.
In Wirklichkeit war es schön.

 

Gedicht von Joscha
an einem frühen Morgen.

 

 

Joscha-6.jpg

Im März stapft der Joscha mit hohen Stiefeln im Garten. Er sucht die ersten Blumen, dort, wo die Sonne den Schnee schon geschmolzen hat. Den ersten Blumen gibt der Joscha jedes Jahr neue Namen. „Diese hier nenne ich Schneewunder und diese hier Frühlingsglocke. Die kleinen da heißen Frostkindchen und die noch kleineren Mutsternchen."

„Ja", sagen die Leute, die an Joschas Garten vorüberkommen, „das sind gute Namen." Und sie merken sie sich und sagen sie weiter, und das ganze Tal weiß, wie in diesem Jahr die ersten Blumen heißen. Und das ist die Aufgabe, die die Leute vom Tal dem Joscha gegeben haben, denn nicht jeder darf den Blumen neue Namen geben. Zum Frühlingsfest kommen alle zusammen. Sie treffen sich dort, wo die meisten Blumen sind. Dort hocken sie sich auf den Boden und sagen: „Willkommen, Schneewunder, herzlich willkommen, Fmhlingsglocke. Hallo, Frostkindchen, bald wird es wärmer. Bravo, Mutsternchen, alle Achtung!" Und dann schenken sie einander Sachen, die sie gebacken, gekocht oder gestrickt haben. Und während sie essen und ihre Strickjacken anprobieren, trägt der Joscha seine Gedichte vor.

Joscha-7.jpg

„Das sind gute Gedichte", sagen die Leute. „Können wir das mit den grünen Insekten und den schwimmenden Pflanzen noch einmal hören? Die wie Boote aus fernen Gegenden kommen?" Und der Joscha sagt es noch einmal.

Da kommt die Lina. Sie hat glänzende Steine aus den westlichen Höhlen geholt, damit das Fest noch schöner wird. Ein jedes darf sich einen Stein aussuchen, aber dem Joscha sucht sie selber einen aus. Es ist ein sehr kleiner Stein, aber blau, tiefblau, daß man drin versinken möchte. Dann spielen sie Spiele miteinander: „Hase und Schildkröte" spielen sie, „Fuchs und Igel" und „Kleine Waldameise, wo gehst du hin?".

Danach wird getanzt. Und dann wird ein Feuer gemacht, und es werden Geschichten erzählt. Der Joscha weiß die meisten Geschichten: Märchen und alte Legenden kennt er, aber auch die Geschichten vom Tal. „Erzähl, wie damals die Lina das Mondeisen gefunden hat!" sagen die Leute zu ihm. Und der Joscha erzählt, und die Lina sitzt neben ihm.

Und er erzählt, wie die Leute vom Tal das Eisen früher aus den Düsteren Bergen holen mußten, wenn sie welches brauchten. Niemand geht gern in die Düsteren Berge, dort leben düstere, freudlose Leute, die es nicht mögen, wenn Fremde kommen. Die Düsteren Leute können das Eisen aus der Erde holen/ sie wissen, wo es versteckt ist. Aber sie geben es nicht gerne her, ganz gleich, was man ihnen dafür bietet. Manchmal ließen die Düsteren die Leute vom Tal tagelang vor ihren Türen warten, und dann sagten sie: „Geht nach Hause, wir haben kein Eisen." Dann zogen die Leute vom Tal wieder ab mit all den wollenen Kleidern/ den Früchtekörben und Schachteln voll Gebackenem, die sie gegen das Eisen hatten eintauschen wollen. Das alles erzählt der Joscha, und die Leute nicken und sagen: „Ja, genauso war es und manchmal noch schlimmer. Es ist wirklich schwer auszukommen mit den Düsteren."

Und der Joscha erzählt, wie die Leute vorn Tal jeden rostigen, verbogenen Nagel noch einmal geradeklopften, wie sie jedes Messer so lange schärften, bis es so dünn war, daß es nur noch eine Schneide, aber keinen Rücken mehr hatte. Aber irgendwann war es dann doch wieder soweit und konnte nicht länger hinausgeschoben werden: die Leute packten seufzend zusammen, was ihnen am schönsten und kostbarsten erschien, und machten sich auf, um es wieder einmal bei den Düsteren zu versuchen. Eines Tages kam die Lina zurück von einem ihrer Streifzüge. Sie kam gerade zurecht zum Frühlingsfest. Damals lebte der alte Herr Weizenkorn noch, und der war der beste Geschichtenerzähler, den das Tal jemals hatte. „Na, na, du bist auch nicht schlecht", unterbrachen einige den Joscha, und ein paar andere sagten: „Pst, laßt ihn doch weitererzählen!"

Als es Abend wurde und Zeit zum Geschichtenerzählen, da bat die Lina den Herrn Weizenkorn: „Erzähl uns doch, wie damals der Mond vom Himmel gefallen ist!" . ...........

Joscha-8.jpg

„Ja", sagte der Herr Weizenkorn, „das ist passiert, als der Vater vom Vater meines Vaters noch ein Kind war. Eines Nachts fiel etwas vom Himmel, etwas wie ein Stern oder gar der Mond. Es leuchtete hell wie ein nächtlicher Blitz und fuhr mit einem gellenden Pfeifen quer über den Himmel. Es erleuchtete das ganze Tal, bevor es verschwand. Und dann war alles dunkel und still. Erschreckt liefen die Eeute aus ihren Häusern und Höhlen. Frierend und traurig kamen sie bei der alten Linde zusammen, dort, wo sie sich von alters her treffen, wenn es etwas zu bereden gibt. ,Der Mond ist vom Himmel gefallen!' sagten welche. ,Nein, es war ein Stern', sagten die anderen. Aber alle hatten große Angst, daß es nie mehr helle Nächte geben würde, daß alle Nächte nun immer dunkel sein würden wie die Neumondnächte, in denen die Leute nur ungern aus ihren Häusern gehen.

,Und wie werden wir wissen, wann es Zeit ist zu säen und zu ernten, wenn wir uns nicht mehr nach dem Zunehmen und Abnehmen des Monds richten können?' jammerten andere.

,Und überhaupt, wenn der Mond vom Himmel fallen kann, dann kann alles passieren. Dann ist nichts mehr sicher auf dieser Welt!' weinten wieder andere. Und sie dachten, daß bald die Welt untergehen würde. Es folgten schreckliche Wochen. Denn es kamen die Herbststürme, und immer war der Himmel von Wolken verdeckt. Die Leute konnten einfach nicht feststellen, ob der Mond noch da war oder nicht. Und sie dachten, die Stürme seien besonders heftig, und das sei, weil der Mond heruntergefallen war. Aber endlich hörten die Stürme auf, und der Himmel wurde klar. In dieser Nacht konnte keines schlafen, alle warteten, ob der Mond sich zeigen würde. Die Sterne schienen ruhig und klar, aber der Mond war nicht zu sehen. Die Leute warteten bis zum Morgen, aber der Mond kam nicht. Da weinten viele und verloren allen

Mut. Endlich rechnete einer nach - es war der Vater meines Vaters - und bemerkte, daß in dieser Nacht Neumond war und der Mond auf keinen Fall zu sehen sein konnte. Also hatten sie noch eine Hoffnung. Aber ihr könnt euch vorstellen, wie dieser Tag verlief. Die Leute hatten die ganze Nacht nicht geschlafen, und jetzt warteten sie verzweifelt auf den Abend. Sie konnten nichts arbeiten und nichts essen und wagten es nicht, einander in die Augen zu sehen, weil sie dachten, sie würden zu weinen anfangen, wenn sie die Angst in den Augen der anderen sahen. Endlich kam der Abend, die Sonne ging unter, und da, über den Gipfeln der westlichen Berge, stand bleich und weiß die dünne Mondsichel. Da lachten und weinten die Leute durcheinander und fielen einander in die Arme und küßten sich, und manche tanzten, als seien sie vor Freude verrückt geworden. Wenn wir den neuen Mond sehen, dann küssen wir noch immer den oder die, die uns gerade am nächsten ist. Das war vorher nicht der Brauch/'

Joscha-9.jpg

 

Das, sagt der Joscha, war die Geschichte, die der alte Herr Weizenkorn damals erzählte.

Da sagte die Lina: „Wenn es nicht der Mond war, was war es dann?"

„Ja", sagte der Herr Weizenkorn, „vielleicht nur ein Stück vom Mond. Oder ein Stern. Wer kann das wissen." Und die Lina sagte: „Die Leute in den Ebenen unten sagen, daß manchmal Sterne vom Himmel fallen, die ganz aus Eisen sind. Wenn wir diesen Stern finden könnten, und er wäre aus Eisen, dann müßten wir nicht mehr zu den Düsteren gehen."

„Und das war eine lange Rede für die Lina", sagt der Joscha, und die Lina lächelt verlegen. Denn sie redet nicht so gerne, wenn viele Leute dabei sind.

Die Lina fragte den Herrn Weizenkorn, in welche Richtung denn der Stern gefallen sei. Aber der wußte das nicht. So fragte sie alle alten Leute, die vielleicht davon gehört haben konnten, aber die einen sagten so und die anderen so, und da konnte sie es nicht herausfinden. Und manche sagten zu ihr: „Weißt du, laß den Stern lieber liegen, wo er liegt. Zu den Düsteren zu gehen ist zwar kein Vergnügen, aber schließlich fressen sie uns nicht. Und wer weiß, ob der Stern uns nicht irgendein Unglück bringt, wenn man ihn in seiner Ruhe stört."

Aber die Lina forschte weiter, und einmal redete sie mit einem, der sagte: „Wenn so ein Stern auf die Erde fällt oder ein Stück vom Mond - das muß doch ein riesiges Loch geben, wo das hingefallen ist. Weißt du nicht irgendein großes Loch in der Erde, du wanderst doch soviel herum?"

Daß dieser eine, der das gesagt hat, der Joscha selber gewesen ist, das erzählt er nicht. Die Leute wissen es aber sowieso, und sie lächeln.

„Natürlich!" sagte die Lina, „daß ich daran nicht gedacht habe. Im Hundertschattenwald, wo's durch die Bärenschlucht geht, da hab' ich einmal einen Krater entdeckt.

Die Erde ist da kohlschwarz, als ob dort alles einmal verbrannt wäre."

Und da ging die Lina hin, ganz allein, und hieb sich mit ihrem Messer einen Weg durchs Gestrüpp, bis sie den Stein fand. Er war groß wie ein kleiner Berg und hatte sich tief in die Erde gegraben. Die Lina klopfte Stücke von dem Stein, und als sie mit ihrem Hammer daraufschlug, da klang es wie Eisen.

„Und so hat die Lina das Mondeisen gefunden", sagt der Joscha, „und wir müssen nicht mehr zu den Düsteren gehen!"

„Ja, ja, die Lina, das ist schon eine!" sagen die Leute anerkennend. Und die Lina wird ein bißchen rot und geht nach hinten, wo es dunkler ist.

Joscha-10.jpg

Als das Holz verbrannt ist, verabschiedet man sich. Man schüttelt einander die Hand, gratuliert sich, daß der Winter vorbei ist, und sagt: „Die Wege sind jetzt ohne Schnee, da müssen wir uns wieder öfter besuchen." „Ja, das müssen wir", ist dann die Antwort. „Komm, wann du willst, mein Haus ist dein Haus!" Und dann gehen sie schlafen.

 

 

Dort war es immer nur dunkel.
Niemand kannte dort Licht.
Daß sie von Sonnen träumten,
sagten sie einander nicht.

 

Gedicht von Joscha über ein Land

 

 

Joscha-11.jpg

Im April macht der Joscha Besuche. Er besucht die Frau Sternkäse und den Herrn Ackermann, die drei Siebenkinder, den Hollerfranz, die Schwarze Marie, den Herrn Hundswolf, die Grünmeisterin...

Die Leute freuen sich, wenn der Joscha kommt, und sie sagen: „Was bringst du, Joscha, was hast du gesehen?" „Eine graugrüne Pfütze", sagt der Joscha, „und in der Pfütze meine Stiefelspitze. Ein Spinnennetz voller Tautropfen und einen Tautropfen voller Morgensonne. Eine durstige Hummel in einer Taubnesselblüte. Das bring' ich dir alles. Und ein kleines Gedicht, das ich auf dem Weg gemacht habe/'

Und dann sagt ihnen der Joscha sein Gedicht. Und das geht vielleicht so:

„Veilchen, mein Veilchen, bleib noch ein Weilchen!" „Tut mir leid, muß schon geh'n. Andere Blumen sind auch schön!"

Joscha-12.jpg

Die Leute bedanken sich dann wohl für das Gedicht. Oder sie reden auch eine Weile darüber und sagen: „Ein schönes Gedicht. Kurz, aber traurig."

„Nicht zu traurig, hoffe ich", sagt dann der Joscha. „Nein, nein, nicht zu traurig. Schließlich müssen wir alle einmal gehen, und man soll niemanden zurückhalten wollen. Aber ein bißchen traurig ist es schon. So traurig, wie es eben nötig ist, nicht wahr?"

„Ja", sagt der Joscha, „das glaube ich auch." Und dann bitten sie ihn herein und zeigen ihm die neugeborenen Kätzchen. Oder sie führen ihn auf dem Hof herum und zeigen ihm die neue Scheune, die sie gebaut haben und für die sie noch einen Spruch übers Tor brauchen. Ob der Joscha ihnen den machen kann? Oder sie zeigen ihm das Loch im Gänsestall, durch das der Fuchs gekommen ist und eine von Großvaters Gänsen geholt hat. „Kannst du nicht auch für ihn ein Gedicht machen? Eins, das ihn tröstet. Es war seine Lieblingsgans."

Joscha-13.jpg

Und der Joscha merkt sich alles und sagt: „Ja, komm dann morgen zu mir, oder besser übermorgen, sicherheitshalber. Dann kannst du die Gedichte gleich mitnehmen." Auf dem Heimweg dichtet der Joscha dann das Gedicht von der grauen Gans, die so klug und so schön war und dem Großvater immer nachgelaufen ist wie ein Hündchen. Und wenn auch ihr Ende ein trauriges war, so war doch ihr Leben ein schönes, weil jemand sie liebgehabt hat.

 

 

Früher war alles ganz anders.
Morgen ist alles ganz neu.
Später ist nichts mehr wie früher.
Ich bin dann nicht mehr dabei.

 

Gedicht von Joscha,
als er im Felsen
einen seltsamen versteinerten Fisch fand.

 

 

Joscha-14.jpg

Im Mai geht der Joscha ins höchste Zimmer von seinem Haus. Auf dem Fensterbrett stehen da Töpfe mit kleinen Erdbeerpflänzchen. Die hat er das ganze Frühjahr über gehegt. Im letzten Sommer hat ihm die Lina wilde Erdbeeren mitgebracht aus den Wäldern. Ein paar davon hat er getrocknet, und die winzigen Körnchen hat er aufbewahrt. Als die Märzsonne schien, hat er sie in die Blumentöpfe gesät, und jetzt sind sie groß genug, um ins Freie zu kommen. Der Joscha geht durch den Garten und pflanzt Erdbeeren. Aber er pflanzt sie nicht auf ein Beet. Er versteckt seine Erdbeerpflänzchen unter Büschen und Sträuchern. Zu den Haselnüssen und zu den Johannisbeeren kommen welche, auch rund um den Brunnen und neben die Stufen, die zur Haustüre führen. Ein paar kommen vors Haus, und ein paar kommen hinters Haus, ein paar an den Weg und ein paar in die Wiese. Wenn es ein warmer Herbst wird, werden in diesem Jahr noch ein paar Beeren reifen. Sonst eben im nächsten Sommer. Der Joscha wird dann längst vergessen haben, wo er die Erdbeeren gepflanzt hat. Dann wird er an einem Tag etwas Rotes im Gras blinken sehen, und er wird ganz überrascht sein und sagen: „So ein Glück, ich habe eine Erdbeere gefunden!"

An alle Plätze, wo der Joscha gerne sitzt, pflanzt er Erdbeeren hin. Zu den Margeriten, zu dem großen moosigen Stein und zu dem Rasenfleck am Tümpel, wo er immer den Kaulquappen zuschaut. Manchmal holt er auch ein Marmeladeglas aus dem Haus und fischt sich eine Kaulquappe heraus. Sie sieht noch aus wie ein dicker, runder Fisch und würde sterben, wenn sie nicht im Wasser sein könnte. Aber bald werden ihr Beine wachsen, ihr Schwanz wird verschwinden, und sie wird als Frosch aus dem Teich hüpfen. Ob der Frosch sich dann noch an sein Unterwasserleben erinnert? Der Joscha würde das gerne wissen. Und auch, ob ein Schmetterling sich an sein Raupendasein erinnert oder der Maikäfer an sein Leben als Engerling unter der Erde. So viele Tiere verwandeln sich.

Joscha-15.jpg

Manchmal, wenn der Joscha am Teich sitzt und den Kaulquappen zusieht, dann kriegt er so ein Gefühl, als wäre er selber auch so etwas wie eine Kaulquappe. „Vielleicht", sagt er dann ganz verwundert und leise zu sich, „vielleicht verwandle ich mich noch einmal in etwas ganz anderes." Aber jetzt ist es noch nicht soweit, und der Joscha will Erdbeeren pflanzen. Für jedes Pflänzchen gräbt er eine kleine Grube. Er tut die beste Erde hinein, die er in seinem Garten finden kann, und sticht mit dem Finger ein Loch in die Erde. Wenn er das Pflänzchen aus dem Blumentopf nimmt, dann kommen ihm seine Finger so schrecklich dick vor. Ganz zart faßt er den feinen Stiel an, von dem die weißen Wurzeln herunterhängen. „Glück auf den Weg!" sagt er, wenn das Pflänzchen im Boden ist. „Ich freue mich schon auf deine Früchte. Es kann sein, daß einmal ein Schneck kommt und an dir knabbert, damit mußt du rechnen. Aber nimm es nicht allzu schwer, es sind ganz nette Tiere, wenn man sie kennt."

Joscha-16.jpg 

 

Im Mai blüht Joschas Baum. Joschas Baum ist ein Apfelbaum. Der Joscha liegt unterm blühenden Apfelbaum. Er hat die Hände unterm Kopf verschränkt und schaut in den Himmel, in die Zweige über sich. Es ist kalt, da wo der Joscha wohnt, und die Apfelbäume blühen spät. Der Himmel ist blau, aber ein kühler Wind kommt von den Bergen, treibt immer neue Wolken vor sich her, läßt die Äste schwanken und zittern. Immer wieder reißt er Blüten von den Ästen ab, treibt sie über die Wiesen, durch den Himmel davon

.Joscha-17.jpg

Die Apfelblüten sind lieblich. Hellrot sind die Blütenblätter, solange sie noch als Knospen geschlossen sind. Einen rosa Rand haben die halb geöffneten Blüten, und wenn sie dann gänzlich offen sind/ sind sie weiß wie die Wolken. Nur die Blütenkelche sind von zartestem Grün und die Stiele. Und hin und wieder zeigt sich schon ein erstes, schimmerndes Blatt. Wie ein junges Mädchen ist der Baum, zart und frisch, denkt der Joscha.

Schaut der Joscha genauer hin, sieht er die Äste vorn Apfelbaum. Alt und knorrig ist der Baum, die Äste von vielen schweren Apfelernten zur Erde gezogen, von Stürmen verkrümmt, von den Winterfrösten zerrissen, zersplittert. Ein ganzer schwerer Ast ist tot, genau in der Mitte über Joschas Kopf, die Rinde hat sich von ihm gelöst, hängt an einigen Stellen herunter, angefressen, vermodert, nackt wie ein Skelett kommt das tote Holz darunter zum Vorschein, gezeichnet von den Gängen der Larve des Apfelglasf lüglers.

Ein anderer Ast ist schon abgebrochen, nur mehr ein schwarzer, trauriger Stumpf ist übriggeblieben. Moos und Flechten haben sich auf den Ästen angesiedelt. Knotig und zackig ist das Fruchtholz, an dem die Blüten sitzen. Aber aus den alten Ästen sprießen auch junge Triebe gerade nach oben, frisch und rötlichbraun glänzt ihre Rinde. Wenn der Wind einmal nachläßt, hört der Joscha das Summen der Bienen im Baum. Mit Sorge sieht er ein paar Maikäfer, die an den ersten Blättern fressen. Wenn es zu viele

Joscha-18.jpg

werden, können sie ihm den Baum kahlfressen. Keine Äpfel gibt es dann im Herbst. Da und dort hat der Ringelspinner seine Eier im Kreis um kleine Zweige abgelegt. Wunderschöne Raupen sind daraus geschlüpft, leuchtend blau, weiß und orangerot gestreift, mit feinem rötlichem Pelz. An einigen Ästen krümmt sich noch die grüne Frostspannerraupe, aber die meisten haben sich schon verpuppt. Auch an den Blüten fressen die winzigen Larven des Apfelblattsaugers.

So viele Tiere leben von dem Apfelbaum, denkt der Joscha, und es sind ihm bis jetzt nicht zu viele geworden. In den Blüten lauern Krabbenspinnen auf die Bienen, in den Ritzen der Rinde haben die Wolfsspinnen überwintert, Kreuzspinnen haben ihre Fangnetze zwischen den Ästen gesponnen.

Irgendwo haben Meisen ein Loch im Stamm gefunden und da gebrütet. Jetzt jagt das Kohlmeisenpärchen nach Raupen für seine Jungen. Kurz bleibt das Meisenweibchen auf dem Ast sitzen, blickt sich nach allen Seiten um. In seinem Schnabel die Raupe lebt noch und windet sich schmerzlich. Eine andere Meise kommt herzu, will vom Raupenreichtum holen. Aufgeregt kommt das Meisenmännchen heran, zetert böse, ein kurzer Streit, die fremde Meise fliegt geschlagen davon.

Joscha-19.jpg

Jugend und Alter, Leben und Sterben, alles ist da zur gleichen Zeit in der Krone des Apfelbaums. Alles ist immer da, denkt der Joscha, und es gibt nichts, worüber man traurig sein müßte. Sogar was nicht da ist, ist da, denkt der Joscha, und er sieht in die Wolken, die der Wind dahintreibt, und sieht darin nie gesehene Tiere, Geister und Pflanzen, Fahrzeuge und Landschaften, und jede Wolke kann eine Unendlichkeit von Dingen sein, je nachdem, wie er hinschaut. Und nach wenigen Augenblicken sieht sie schon wieder ganz anders aus, und eine neue Unendlichkeit von Welten ist in ihr.

Glücklich wackelt der Joscha mit den Zehen, denn er hat keine Schuhe an, heute zum ersten Mal in diesem Jahr. „Ich bin der Joscha unterm Baum", sagt er. „Der Joscha unterm Apfelbaum."

 

 

Ich möchte dir etwas schenken,
weniger fast als nichts.
Es hilft dir, an mich zu denken,
und wenn du es anrührst, dann spricht's.

 

Gedicht von Joscha,
das er an Lina schickte,
als sie sehr fern war.
(In einer Flasche, den Bach hinunter)

 

 

Joscha-21.jpg

Im Juni fliegen Schwärme von Löwenzahnschirmchen durch die Luft. Der Joscha sitzt am Teich und schaut dem Leben im Wasser zu. Auf dem Wasser laufen Käfer mit langen Beinen herum. Kleine Würmer zucken und krümmen sich. Sie werden sich bald in Mücken verwandeln. In Stechmücken noch dazu, denkt der Joscha und kratzt sich schon an den Waden. Eine Wasserschnecke gleitet über die Steine, eher flott eigentlich, gar nicht schneckenlangsam. Ein Käfer gräbt sich im Sand ein, und der Joscha kann nur sein breites Maul auf- und zuschnappen sehen. Die Kaulquappen haben schon ihre Hinterbeine, manche sogar ihre Vorderbeine und nur mehr ganz kurze Schwanzstummelchen. Einige haben sich auch schon ganz verwandelt und sind hinausgewandert in die Wiesen und Büsche, um ihr neues Leben aufzunehmen.

Der Joscha seufzt. Es ist schon bald Zeit für das Sommerfest, aber die Lina läßt nichts von sich hören. Der Joscha kann sich kein Sommerfest ohne die Lina vorstellen. Im Tal springt keines so hoch übers Feuer wie sie. Und das ist wichtig, daß hoch gesprungen wird, denn die Leute im Tal glauben fest daran, daß ihr Korn um so höher wächst, je höher die Sprünge sind. Natürlich ist das Sommerfest auch ein großes Geschichtenfest, aber das wichtigste ist das Springen, und am besten kann das die Lina. Der Joscha zum Beispiel, der springt lieber erst, wenn das Feuer schon ein bißchen heruntergebrannt ist. Da fühlt er sich wohler. Zwei winzige Frösche sitzen auf einem Seerosenblatt. Da sagt der Joscha zu ihnen: „Ich erzähle euch eine Geschichte, damit ihr etwas hört von der Welt. Ich erzähle euch von Lina, der Heldin. Sie hat sich ein wildes Pferd eingefangen, ein schwarzes Pferd, darauf reitet sie nur bei Nacht, denn die Leute im Land sind ängstlich und böse und hassen die Fremden. Bei Nacht aber liegen sie in ihren Hütten und denken an Geister und Ungeheuer. Und sie fürchten sich, wenn sie draußen etwas vorbeitraben hören. Es ist aber die Lina in ihrem schwarzen Mantel, der macht sie so dunkel wie die Nacht. So reitet sie, bis sie in freundliche Länder kommt. Dann aber wandert sie am Tag und führt ihr Pferd am Halfter. Sie spricht mit den Leuten und fragt: ,Was ist euer Wissen, was ist eure Weisheit?' Denn ein jedes Volk hat sein Wissen und seine Weisheit. Die vom Jagen in den Wäldern leben, haben diese Weisheit: Hab keine Angst um den kommenden Tag. Die Erde ist groß und fruchtbar, und jeder Tag hat sein Geschenk für dich. Die Bauern in den Dörfern aber haben diese Weisheit: Ein jeder Tag hat seine Arbeit und Mühe, und wer ernten will, muß seinen Schweiß vergießen. Die Hirten in der Steppe aber haben diese Weisheit: Wo dein Zelt steht, ist deine Heimat, und das Gras ist überall grün. Und auch

Joscha-22.jpg

die Tiere haben ihre Weisheit. Das Krokodil hat diese Weisheit: Es frißt die Vögel nicht, die in seinem Maul nach Futter suchen. Denn sie halten ihm die Zähne sauber, und so wird es nicht krank. Das Eichhörnchen aber hat diese Weisheit: Es versteckt seine Nüsse an vielen Plätzen. Wenn ein Versteck ausgeraubt wird, bleiben ihm noch die anderen.

So wandert die Lina und sammelt Weisheiten ein. Sie bringt uns auch Salz und Kupfer mit von ihren Wanderungen, schöne Steine und neue, nützliche Pflanzen. Aber am sehnlichsten warten wir immer auf ihre Geschichten. Wir alle hoffen, daß sie zum Sommerfest wieder zurück ist, die Lina, und ein paar von uns machen sich schon etwas Sorgen."

Joscha-23.jpg

Doch wer kommt da durchs Gartentor, leise und lächelnd, und hat den Rucksack voll Neuigkeiten? Es ist die Lina. Sie schüttelt ihr Haar und wirft ihren Rucksack zu Boden. „Grüß dich, Joscha", sagt sie, „wie geht es dir? Ich habe Krokodile gesehen!"

„Das habe ich mir gedacht", sagt der Joscha lachend. „Ich habe es gerade den kleinen Fröschen erzählt."

 

 

Wir hatten ihn ganz vergessen
und suchten ihn erst nach Stunden.
Er hatte unterdessen
schan andere Eltern gefunden.

 

Dieses Gedicht machte den Joscha
immer sehr traurig.

 

 

Joscha-24.jpg

Im Juli haben die Leute vom Tal viel zu tun. Sie ernten Heu oder dörren Fische, denn die Tage sind lang und müssen genutzt werden. Aber die Nächte sind warm und zu schön, um zu schlafen, und so sitzen sie abends oft beisammen und erzählen Geschichten. Überall brennen Feuer, um die sich die Leute scharen. Sie schauen den Funken zu, die über dem Feuer tanzen, oder sie liegen auf dem Rücken und schauen die Sterne an und die Leuchtkäfer, die sanft vorübergleiten.

Die Lina ist hiergeblieben, jede Hilfe wird gebraucht bei der Ernte. Sie sitzt mit den Leuten am Feuer und erzählt von den Ländern und Völkern, die sie gesehen hat. Sie erzählt von Ländern, wo die Menschen sehr tapfer sind. Manche leben in Eis und Kälte im Land der langen Dunkelheit, andere leben hoch in den Bergen, wo die Luft sehr dünn ist und wilde Stürme wehen. Andere leben im heißen Licht der Wüsten und andere an den kargen Meeresstränden. Dann erzählt sie von Ländern, wo die Menschen in Angst

voreinander leben, wo keines dem anderen traut, nicht einmal die Mutter dem eigenen Sohn. Wer glaubt, der Stärkere zu sein, beraubt und bestiehlt dort den anderen, denn Stärke gilt dort als Recht und Schwäche als Unrecht. Sie erzählt auch von Ländern, wo alle miteinander handeln. Dort gibt keiner etwas her ohne zu fragen: „Was bekomme ich dafür?", und sie reden nur darüber, wieviel ein Ding wert ist und welche anderen Dinge man dafür eintauschen könnte. Ihre größte Freude ist, viel für wenig einzutauschen, und sie sind stolz auf sich, wenn sie einen anderen übers Ohr hauen können.

Dann erzählt die Lina von Völkern, deren größte Freude es ist, in den Krieg zu ziehen und über andere herzufallen. Sie erobern Länder und gründen Reiche, und eines Tages setzen sie sich auf ihre Pferde und reiten weiter, bis sie irgendwo besiegt und erschlagen werden. Die Lina erzählt von Menschen, die an Teufel und Geister glauben und ständig in Angst leben, etwas falsch zu machen, wofür sie bestraft werden könnten. Ein jedes paßt dort auf das andere auf, und alle nörgeln aneinander herum und tuscheln heimlich, daß den oder jene bestimmt bald der Teufel holen wird.

Aber dann erzählt die Lina auch von großen Kunstwerken, die die Menschen in anderen Ländern schaffen, von Pyramiden und Palästen, von Markthallen und Badehäusern, von breiten Straßen und großen Schiffen und von den Menschen, die all das schaffen. Sie erzählt von Handwerkern und Gelehrten, von Sängern und Tänzern und Schauspielern, von Akrobaten und Taschenspielern, von Ärzten und Baumeistern und Köchen und all den tausend Beschäftigungen, denen Menschen nachgehen können. „Ja", sagen die Leute, „das sind wirklich interessante Sachen, die du uns erzählst."

Joscha-25.jpg

„Nicht wahr?" sagt die Lina. „Aber jetzt hab' ich genug." Und sie sagt zum Joscha: „Erzähl du etwas!" Und der Joscha erzählt von seinem Garten. Der Joscha erzählt von Kröten, die ihre Männchen auf dem Rücken herumtragen. Er erzählt von Schmetterlingen, die nicht fressen können, weil ihr Mund zugewachsen ist. Gefressen haben sie als Raupen. Als Schmetterlinge leben sie nur mehr für die Liebe. Der Joscha erzählt von einem seltsamen Fisch, der in seinem Teich lebt. Er läßt seine Eier von einer Muschel ausbrüten. Dafür läßt der Fisch die jungen Muschellarven in seinem Körper leben. Dann erzählt der Joscha eine schaurige Geschichte: Eine Fliege gibt es, die stirbt sofort, wenn sie ihre Eier gelegt hat. Sie klammert sich an einen Zweig überm Wasser, klebt ihre Eier daran und stirbt. Dann kommt die nächste Fliege, hängt sich an die tote Fliege, legt ihre Eier und stirbt. So geht es fort, bis sich ein großer Klumpen toter Fliegen gebildet hat, der da an dem Zweig hängt. Wenn dann aus den Eiern die Maden schlüpfen, ernähren sie sich von ihren toten Müttern. Dann lassen sie sich ins Wasser fallen und leben dort weiter, bis sie sich selber in Fliegen verwandeln. Diese Fliege heißt Ibisfliege und hat glashelle Flügel. „Schrecklich!" sagen die Leute. „Daß es so etwas gibt!" Und einige sagen: „Ja, ja, so ist es. Die Kinder fressen uns auf!"

„Das ist eben wahre Mutterliebe!" sagen andere. Und so reden sie eine Weile, und die Kinder schmiegen sich ihren Müttern in den Arm und sagen ihnen, daß sie lieber lebendige Mütter haben als welche, die sich auffressen lassen. „Aber", sagen die Leute zum Joscha, „willst du nicht auch einmal reisen?"

Der Joscha verschränkt die Arme hinterm Kopf, legt sich zurück und schaut in den Sternenhimmel. „O ja", sagt der Joscha, „ich möchte gern einmal reisen. Ich will alles wissen und alles kennenlernen, die ganze Welt und wenn möglich den Himmel. Zuerst unser Tal, dann die düsteren Berge im Norden. Dann möcht' ich den Bach hinunterwandern und die Länder am großen Fluß kennenlernen. Danach die Länder jenseits davon und dann die Länder dahinter. Ich will die Länder der traurigen Menschen kennenlernen und die der fröhlichen. Die Länder am Meeresstrand und die Länder, wo es Gletscher gibt. Dann die Länder, wo viele Bücher gedruckt werden und wo Gelehrte in den Städten hausen. Dann möchte ich alle Wüsten erforschen und alle Urwälder. Danach möchte ich über die Meere segeln, wo die Wale singen und es fliegende Fische gibt. All das möchte ich eines Tages sehen!" „Und wann brichst du auf, Joscha, zu deiner großen Reise, wann machst du dich auf den Weg?"

„Ich weiß nicht", sagt der Joscha verträumt, „ich bin noch nicht soweit. Ich kenn' ja noch nicht einmal meinen Garten."

 

 

Wir haben uns nicht gefürchtet,
da war es nicht mehr so schwer.
Wir verschoben einfach das Fürchten
auf hinterher.

 

Gedicht von Joscha
für ein paar Freunde.

 

 

  Joscha-26.jpg

Im August kommen die Gewitter. Dann sitzt der Joscha unter seiner Laube, wenn die schweren Tropfen niederprasseln, und er denkt: „Im August ist alles schwer. Die schwüle Hitze ist schwer, die Regenwolken sind schwer, die Tropfen sind schwer, sogar der Donner klingt, wie wenn schwere Steine in leere Fässer fallen. Die Bäume sind schon schwer von Früchten, und die Luft ist schwer von Düften. Und auch mein Herz ist schwer, weil der Sommer bald gehen wird. Der ganze August ist schwer. Ich werde ihn Elefantenmonat nennen, weil er so schwer ist."

Aber dann ist das Gewitter vorbei, im Westen zeigt sich die Abendsonne und im Osten ein herrlicher Regenbogen, der das Tal überspannt.

Der Joscha geht aus seiner Laube auf die feuchte Wiese hinaus. Schnecken kriechen jetzt über die Wege, eine Kröte sitzt am Teich und reckt den Kopf zum Himmel empor, als ob sie dem Regen ein Danklied singen wollte. Aber sie lauert nur auf Mücken. Ein Laubfrosch klettert auf der Sonnenblume herum, und durchs Gras tappt ein Feuersalamander. Alle, die sich sonst vor der Hitze verstecken, sind herausgekommen ins Feuchte und Kühle. Vorsichtig geht der Joscha, um keine Schnecken zu zertreten. Er hockt sich neben den Feuersalamander und läßt ihn auf seine Hand kriechen.

„Siehst du, alles ist leicht", sagt der Joscha zum Salamander. „Der Regenbogen, der überm Tal schwebt, ist leicht, und die Mücken, die überm Teich schwirren, sind leicht. Die Schwalben jagen leicht durch die Luft, und die Luft selber ist leicht und weich nach dem Regen. Die Schmetterlinge auf den Blumen sind leicht, und die Tropfen an den Blättern sind leicht. Und du, du bist auch ganz leicht auf meiner Hand, und deine kleinen Hände tappen so leicht auf meiner Haut. Und mein Herz ist auch leicht, weil alles Schwere vorübergeht, so wie das Gewitter, und der Sommer doch immer wiederkommt. Der ganze August ist leicht. Ich werde ihn Libellenmonat nennen." Und dann setzt er den Salamander wieder ins Gras. Schwerfällig tappt der Salamander davon, er windet und schlängelt sich bei jedem Schritt. Aber dann fängt er sich ganz leicht eine Mücke.

Joscha-27.jpg

 

 

Als ihm die Beine fehlten,
kam er auf Händen gegangen.
Als sie ihn wieder verletztn,
machte er's wie die Schlangen.

 

Gedicht von Joscha über einen,
der nicht geweint hat.

 

 

  Joscha-28.jpg

Im September erntet der Joscha die Äpfel von seinem Apfelbaum. Er erntet sie mit einer langen Stange, daran hat er oben einen Ring befestigt mit einem kleinen Leinensack, in den die Äpfel fallen können, und ganz an der Spitze sind zwei hölzerne Finger, um die Äpfel vom Ast zu ziehen. Der Joscha pflückt und pflückt. Zu Mittag steht er vor einem Berg von Äpfeln.

Der Joscha holt sich einen Buckelkorb, füllt ihn mit Äpfeln und hängt sich den Korb auf den Rücken. Er geht die Nachbarn im Tal besuchen.

„Schönen Tag, Joscha, wie geht es, was hast du Neues gesehen?"

„Nichts Neues heute, nur Äpfel. Ich muß meinen Apfelbaum abernten. Er hat diesmal soviel getragen, die Äpfel fallen mir aufs Haus und drücken das Dach ein. Könnt ihr nicht ein paar brauchen?"

„O ja, schönen Dank auch. Die du uns voriges Jahr gebracht hast, waren köstlich, und sie halten auch gut. Die letzten haben wir noch im April gegessen." „Das ist gut", sagt der Joscha. „Habt ihr auch welche gebraten? Man muß die Mitte herausschneiden und Honig und Zimt hineintun."

„Wir stecken auch ein paar Gewürznelken hinein, wenn die Lina, uns welche bringt." „Ja, mit Gewürznelken sind sie gut."

„Wir haben deinen Spruch übers Scheunentor gemalt. Und noch eine Girlande herum, Himbeer- und Brombeerblätter. So kommt er besser zur Geltung/ findest du nicht?" „O ja, es sieht gut aus. Und eine Eidechse habt ihr auch hingemalt, sehe ich, und einen grünen Käfer. Und wie geht's dem Großvater?"

„Danke, gut. Er zieht wieder eine junge Gans auf. Aber er läßt dich fragen, ob du ihm das Gedicht nicht einmal selbst aufsagen willst. So gut wie du kann es niemand, meint er. Er ist da hinten bei seinen Gänsen." „Gut", sagt der Joscha, „dann können die Gänse es auch gleich hören."

Und so geht der Joscha zum Großvater und seinen Gänsen und sagt ihnen sein Gedicht von der klugen Gans auf. Der Großvater hört ernst und feierlich zu, und die Gänse stehen um ihn herum und lauschen auch. „Ja", sagt der Großvater, „genauso war sie, die graue Gans. Du machst wirklich gute Gedichte, Joscha, und wenn du sie selber vorträgst, sind sie doppelt so gut. Den Gänsen hat es auch gut gefallen. Ich denke, dir würden sogar Wölfe und Bären zuhören, wenn du Gedichte aufsagst." „Ich weiß nicht", sagt der Joscha, „ich hätte ein bißchen Angst, glaube ich."

„Ach was", sagt der Großvater, „das gibt sich." Der Joscha geht weiter, denn er hat noch viele Äpfel zu Hause und viele Nachbarn im Tal.

Unterwegs denkt er darüber nach, was für Geschichten Bären wohl mögen. „Vermutlich Geschichten über Bären", denkt er sich. Vielleicht erzählen sich Bären auch kleine, lehrreiche Geschichten, in denen Hasen, Füchse oder sogar sprechende Menschen vorkommen. Aber gemeint sind natürlich immer Bären. Und der Joscha denkt sich aus, wie so eine Bärengeschichte wohl gehen könnte:

Es war einmal ein kleiner Mensch, der lebte in einer Höhle mit Mama Mensch und Papa Mensch und seinem Menschenschwesterchen. Eines Tages beim Spazierengehen fing Papa Mensch zu schnüffeln an und sagte: „Ich rieche Honig. Da oben auf der Eiche muß ein Nest von wilden Bienen sein. Kinder, kommt, wir klettern hinauf und holen es uns!" Aber der kleine Mensch sagte: „Ach, Papa, ich mag nicht klettern, ich habe Angst, daß die Bienen mich in mein Schnäuzchen stechen!" Da sagte Papa Mensch... „So wird es wohl aussehen, wenn in den Bärengeschichten Menschen vorkommen", denkt sich der Joscha. Zwischendurch muß er immer wieder Bekannte grüßen. Um diese Zeit sind die Leute vom Tal viel unterwegs, überall

Joscha-29.jpg

ist ein Kommen und Gehen, weil alle einander Geschenke bringen. Der Winter ist hart im Tal, und man muß darauf sehen, daß keinem was fehlt. Beim Herbstfest, wenn sich alle noch einmal auf dem Festplatz unter der Linde treffen, da ist es üblich zu fragen: „Nun, wie steht's, hast du gut eingelagert für den Winter?" Und der andere sagt dann vielleicht: „O ja, es geht, nur Dörrzwetschken hab ich in diesem Jahr keine, die Würmer haben uns den Baum kahlgefressen." Und dann geht man in den nächsten Tagen hin und bringt ihm Dörrzwetschken und sagt dazu: „Ach, die sind uns übriggeblieben, wir haben sowieso nicht genug Dosen dafür."

Joscha-30.jpg

Der Joscha kommt zum Haus von der Lina, aber die Lina ist noch nicht zurück von ihrer Reise. Säcke und Körbe mit Vorräten stehen vor ihrer Tür, mit Reisig und Blättern zugedeckt. Das haben die Leute vom Tal für die Lina hingebracht. Der Joscha stellt einen Sack Äpfel hin für die Lina zum Essen, und obendrauf legt er noch einen Apfel als Gruß. Die Lina wird schon verstehen.

 

 

Sag mir, wie soll ich es nennen?
Sag mir, wo tu ich es hin?
Werd ich es auch noch erkennen,
Wenn ich nicht mehr bei dir bin?

 

Gedicht, das der Joscha für die Lina schrieb,
aber vor ihr versteckte.

 

 

Joscha-31.jpg

Im Oktober kommt die Frau Sternkäse mit einem Korb überm Arm. „Ich hab' Zwieback gebacken, Joscha. Möchtest du welchen für die kalte Zeit?"

„O danke, gern. Zwieback kann ich gut brauchen, er hält sich den ganzen Winter über."

„Ja, wir sind auch froh, wenn wir einen Vorrat davon haben. Ich schick7 dann vielleicht heute abend meine Neffen herüber mit noch ein paar Körben."

„Recht schönen Dank auch. Und was sagen Sie zu dem Wetter? Ein rechtes Sauwetter, nicht wahr?" „Unserer Sau gefällt es, ja. Sie wühlt im Schlamm und fühlt sich sauwohl." „Sagen Sie ihr einen schönen Gruß!" „Das mach' ich, Joscha, auf Wiedersehen!" Die drei Siebenkinder kommen mit Säcken voll Nüssen. „Wir haben Nüsse gesammelt im Wald. Kannst du welche brauchen?"

„O danke, ja, Nüsse sind gut für den Winter, sie werden nicht so schnell schlecht."

„Ja, das finden wir auch. Dürfen wir deine Schneeflockenmaschine sehen, wenn es dann schneit?" „Die Wege werden zugeschneit sein. Dann ist niemand mehr unterwegs außer der Lina. Aber es ist auch eine Regentropfenmaschine, und die kann ich euch zeigen."

Der Joscha zieht an einer Schnur, da geht irgendwo oben auf dem Dach seines Hauses eine Klappe auf. Die Röhre mit den Gläsern wirft einen Lichtkreis an die Wand, in dem riesige Tropfen langsam von unten nach oben rinnen. In den Tropfen aber sehen sie fremde, durchsichtige Tiere, die ihr eigenes Leben leben. Manche sehen aus wie kleine Trompeten oder Trichter. Sie haben Wimpern rund um den Trichterrand, die dauernd fächeln und zittern. Andere sehen aus wie Räder oder wie Kugeln. Einige ändern ständig ihre Form, lassen da ein Füßchen herauswachsen und da einen Arm und lassen sie auch wieder verschwinden. Die Tiere sind durchsichtig, man kann in sie hineinsehen. „Man kann ihnen beim Leben zusehen", sagen die Siebenkinder.

Joscha-32.jpg

 

„Sie wissen nichts von uns", sagt der Joscha. „Wir sind für sie unsichtbar. Was zu klein ist, ist unsichtbar, und was zu groß ist, ist auch unsichtbar. Vielleicht leben wir unser eigenes Leben in einer großen Welt und wissen nichts davon."

„Ja", sagen die drei Siebenkinder, „das ist schön. Du solltest ein Gedicht darüber machen."

„Alle Gedichte handeln davon", sagt der Joscha. „Deswegen sind es Gedichte."

 

 

Morgen ist Heute Gestern.
Gestern war Morgen Bald.
Wird Sein und Gewesen sind Schwestern.
Jung ist der Vater von Alt.

 

Gedicht von Joscha,
als er ins Feuer schaute,
nachts, an einem Bach.

 

 

Joscha-33.jpg

Es ist November. Die Lina kommt von den Bergen/ sie bringt Regen und Nebel in ihrem Haar. Die Lina besucht den Joscha in seinem Haus unterm Baum.

Der Joscha liegt auf dem Bett und macht die Augen nicht auf.

„Was machst du, Joscha?" fragt die Lina. Eine Weile rührt sich der Joscha nicht. Aber dann sagt er: „Ich denke mir eine neue Farbe aus."

„Eine neue Farbe für deine Zimmer? Willst du das Haus neu streichen?"

„Nein", sagt der Joscha mit geschlossenen Augen, „eine ganz neue Farbe. Eine, die es noch nicht gibt. Nicht Rot, nicht Blau, nicht Gelb, nicht Grün, nicht Weiß, Schwarz, Grau oder Braun, nicht Lila, Orange oder Violett, verstehst du? Eine ganz neue Farbe!" „Ja", sagt die Lina, „ich verstehe."

Eine Weile ist Stille. „Und glaubst du, es geht?" fragt die Lina dann.

„Nein", sagt der Joscha traurig und macht die Augen auf. „Nein, ich glaube nicht. Weißt du", sagt er zur Lina, „ich habe über das Jahr nachgedacht und über sein Leben: Winter, Frühling, Sommer und Herbst hat es gehabt, und mehr gibt es nicht. Bald kommt wieder der Winter, und dann

muß es sterben. Und da ist mir auf einmal eingefallen, daß ich schon alle Farben gesehen habe, die es gibt. Rot und Blau und Grün und Gelb und alle die anderen. Alle habe ich schon einmal gesehen. Und da war ich ganz traurig. Und deswegen wollte ich mir eine neue Farbe ausdenken, eine ganz andere Farbe, weißt du, eine noch nie gesehene. Wenigstens in meinem Kopf. Aber es geht wohl nicht." Und der Joscha sitzt da auf seinem Bett und läßt den Kopf hängen.

„Ja", sagt die Lina, „das kann ich verstehen. Mir geht es auch manchmal so. Ich reise dann fort." Und sie sitzen beide da und denken nach. Draußen weht der Herbstwind.

„Bist du sicher, daß wir schon alle Farben kennen?" fragt die Lina den Joscha. „Vielleicht haben wir eine übersehen?"

„Das glaube ich nicht", sagt der Joscha und schüttelt langsam den Kopf.

„Sollten wir nicht nachsehen gehen?" „Wo denn?"

Joscha-34.jpg

„Im Garten draußen, unterm Baum?" „Da ist alles jetzt braun und grau", sagt der Joscha düster. „Braun und Grau habe ich schon gesehen." „Ja", sagt die Lina, „aber alle Braun und alle Grau?" Und sie gehen in den Garten, und sie sehen: Holzbraun und Erdebraun und Wurmbraun und Stengelbraun. Wurzelbraun und Steinbraun und Käferbraun und Grasbraun, Naßbraun und Glänzendbraun und Mattbraun und Trockenbraun und Braun und Braun und Braun und Braun. „Siehst du?" sagt die Lina. „Ja", sagt der Joscha.

 

 

Einmal lachte er mitten im Essen,
und dann war es ihm wieder klar:
Er hatte ja ganz vergessen,
daß er ein Riese war!

 

Gedicht von Joscha,
als es ihm einmal ganz ähnlich ergangen war.

 

 

Joscha-35.jpg

Es ist Dezember. Dichte Wolken verdecken den Himmel, Schnee fällt in dicken Flocken und deckt die Erde zu und verweht alle Wege im Tal. Der Joscha sitzt verkrochen in seiner Küche und träumt von einer Röhre, die von seinem Höhlenhaus durch den Schnee und die Wolken bis in den blauen Himmel reicht und die Sonne in sein Zimmer bringt. Dann könnte er einen Garten unter der Erde anlegen, mit Schneeglöckchen und Schlüsselblumen, mit Glockenblumen und Erdbeeren, mit Himbeersträuchern und Zwetschken und Apfelbäumen. Und alle Maikäfer und Bienen, Maulwürfe und Kröten, Salamander und Eichhörnchen und Schwalben und alles sonstige Getier könnten im Winter in seine Höhle kommen. Eine Maus läuft durchs Zimmer. „Immerhin bin ich nicht ganz allein", sagt der Joscha, und er erzählt der Maus seinen Traum. „Es ist ein schöner Traum", sagt der Joscha zu der Maus, „findest du nicht auch? Aber irgendwie auch ein dummer Traum. Denn alles hat seine Zeit, und auch die Erde braucht einmal Ruhe. Und wenn es nicht Frühling und Sommer, Herbst und Winter gäbe, dann gäbe es auch nicht Schneeglöckchen und Margeriten, Herbstzeitlosen und Christrosen. Oder nicht?"

Die Maus schaut den Joscha an und putzt sich den Schnurrbart mit ihren Pfoten.

„Willst du noch mehr hören?" fragt der Joscha. Und weil die Maus sich weiter putzt, erzählt der Joscha: „Es gibt ein Land, das ist ganz aus Stein. Es gibt da keine Blumen, kein Gras und keine Bäume, und der Himmel ist wie aus Eisen. In der Mitte des Landes liegt der Nebelgarten. Den haben die weisen Frauen gepflanzt. Jeder Bewohner des Landes wandert einmal in seinem Leben dorthin, um den Nebelgarten zu sehen. Es gibt in dem Garten so viele Nebel wie bei uns Pflanzen, und die Menschen können sich nicht satt sehen daran. Sie wissen, daß sie ihn nur einmal besuchen können, denn das Land ist groß, und der Garten würde zugrunde gehen, wenn zu viele auf einmal dort wären. So geht ein jedes nur einmal hin und bleibt nur wenige Tage, und wer fortgeht, weiß, daß es das letzte Mal war und er den Garten nie wiedersehen wird. Dann träumen sie ihr Leben lang von dem Nebelgarten und erzählen ihren Kindern davon, und eines Tages wandern auch die Kinder dorthin."

Joscha-36.jpg

Die Maus hört dem Joscha zu, bis er still wird. Dann huscht sie davon. Der Joscha ist wieder allein. Bei diesem Schnee findet niemand den Weg bis zu ihm. Nur eine höchstens.

Der Joscha denkt schon ans Schlafengehen. Da geht die Tür auf, und die Lina steht da, mit roten Wangen und einer Schaufel in der Hand. „Ich hab' einen Gang unterm Schnee gegraben. Von meinem Haus zu deinem!" „Gehst du denn nicht auf Reisen?" fragt sie der Joscha. „Nein, nicht mehr", sagt die Lina. „Nicht in diesem Jahr." Und der Joscha freut sich.

Joscha-37.jpg

Die Lina kommt jeden Tag auf Besuch. Sie braten Äpfel auf dem Herd und essen Zwieback und Nüsse und trinken Holundersaft vom Hollerfranz oder Brombeertee vom Herrn Hundswolf. Sie erzählen sich Geschichten und träumen von großen Abenteuern. Von Abenteuern in fernen Ländern und von Abenteuern im Garten vom Joscha. Vom Joscha unterm Baum.

 

Weiter kann man nicht gehen,
hier muss man wieder zurück.
Man kann noch weiter sehen,
aber auch nur ein Stück.